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Jüdisches Leben in Sögel

Diese Seiten erzählen vom Leben und Schicksal der 68 jüdischen Bürger Sögels, die aufgrund ihrer jüdischen Identität grausam ihr Leben verloren.


Dem Forum Buch: „Sögel nach 1945 – Aus dem Chaos ins neue Jahrtausend“ – Herausgegeben 2018 – ist das nachstehende Kapitel zur Erinnerung an das Schicksal der jüdischen Bürger Sögels entnommen.


Dem Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes Band 34 von 1988 sind die folgenden Seiten entnommen: „Von Sögel nach Salaspils – Das Schicksal der emsländischen Juden in der NS Zeit am Beispiel der Familie G.“

Interview mit Dr. Alois Jansen

– Der Nachbarsjunge einer jüdischen Familien

Ein Interview vom 6. November 2008 mit dem aus Sögel stammenden ehemaligen Domprobst des Erzbistums Hamburg, Monsignore Dr. Alois Jansen, ist einem Bericht der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) von Sabine Kleyboldt, Bonn, entnommen.

Dr. Jansen berichtet darin aus der Sicht eines Nachbarjungen auf die Situation der jüdischen Familien in Sögel und den Geschehnissen um den 9. u. 10 November 1938 sowie der Deportation der jüdischen Sögeler Bürger von 1941 und 1942.

KNA: Herr Dompropst, wie haben Sie die Geschehnisse des 9. November 1938 in Erinnerung?

Jansen: Als ich am Morgen danach zur Schule ging, sah ich, dass die Synagoge in unserem Dorf brannte. Sie war in meiner Erinnerung ein großer, schöner Bau. Es standen nur wenige Leute davor, und ich glaubte an einen normalen Hausbrand. Auch in der Schule wurde davon nichts erwähnt. Doch als ich mittags nach Hause kam, herrschte dort großes Entsetzen. Meine Mutter, mein Vater, meine Geschwister – keiner wusste aber genau, was passiert war.

KNA: Wie war der Kontakt zu den Juden im Dorf?

Jansen: Die rund 80 Juden in Sögel waren richtig gut integriert. Ich glaube, dafür haben auch die Geistlichen gesorgt. Das Dorf war zu 90 Prozent katholisch. Es gab keine Aversionen gegen Juden, keine Intoleranz. An unseren Garten angrenzend wohnte eine große jüdische Familie, deren Kinder mit mir in die Schule gingen und mit denen ich ganz selbstverständlich gespielt habe.

KNA: Gab es nach dem 9. November einen Stimmungsumschwung?

Jansen: Ja, wir wurden plötzlich von allen möglichen Seiten gewarnt, nicht mehr mit jüdischen Kindern zu spielen. Man sollte jüdische Familien meiden. Der Ortsgruppenleiter und der Dorfpolizist waren Nazis, das merkte ich dann auch. Da wurde klar, dass die Dorfpogrome von oben veranlasst waren.

KNA: Wie hat Ihre Familie reagiert?

Jansen: Mein Bruder bekam nach den Novemberpogromen von meiner Mutter den Auftrag, der jüdischen Nachbarfamilie immer heimlich Milch und Eier in die Hecke zu stellen, damit die was zu essen hatten. Denn Juden durften dann nicht mehr Nahrungsmittel kaufen. 1941/42 fingen dann die Deportationen an.

KNA: Was haben Sie davon mitbekommen?

Jansen: Eines Tages war die Oma der jüdischen Familie verschwunden. Als ich meine Mutter danach fragte, sagte sie, sie sei in der Nacht abgeholt worden. Keiner wusste genau, wohin. Der Begriff Konzentrationslager war gar nicht bekannt. Alle Juden wurden nach und nach deportiert.

KNA: Und später?

Jansen: Auch als ich nach Meppen aufs Knabenkonvikt ging, hat man nichts Konkretes erfahren. In Meppen saß eine Gestapo-Zentrale, die sich bei irgendwelchen Vorkommnissen einschaltete. Ich erinnere mich, dass jemand in der Nachbarschaft einen Witz über Hitler erzählt hat. Da sagte einer, „Vorsicht, hör auf, sonst passiert dir was“. Da war Angst.

KNA: Wie haben Sie sich persönlich mit den Verhältnissen arrangiert?

Jansen: Wie alle bei uns war ich Hitlerjunge, das darf ich ruhig erzählen. Unsere einzige Beschäftigung war, auf dem Fußballplatz vom einen Tor zum anderen zu marschieren. Das war mir zu langweilig. Dann bin ich in den Fanfarenzug, wo wir zwei Lieder gelernt haben: das Horst-Wessel-Lied und das Deutschland-Lied. Als mir das auch zu langweilig wurde, habe ich mich zur Motor-HJ gemeldet, wo man Moped fahren konnte.

KNA: Wie hat sich das mit Ihrer katholischen Erziehung vertragen?

Jansen: Wir sind ganz selbstverständlich zur Kirche gegangen. Das hätten wir uns nicht verbieten lassen. Später war ich auch in der katholischen Jugend, beim Bund Neudeutschland. Das hat mich sehr geprägt.

KNA: Was ist aus den Sögeler Juden geworden?

Jansen: Die meisten wurden ja leider deportiert und sind wohl im KZ ermordet worden. Das Schöne ist aber, dass zwei der jüdischen Kinder, die damals überlebt haben, wieder zurückgekehrt sind nach Sögel. Dort leben sie wieder und sind genauso anerkannt wie vorher.

KNA: Zum 70. Jahrestag der Pogromnacht finden viele Gedenkveranstaltungen statt. Was sagen Sie dazu?

Jansen: Es ist wichtig, gerade jüngeren Leuten darüber zu erzählen, weil sich viele gar nicht mehr vorstellen können, was den Juden damals angetan wurde von den Nazis. Insofern ist es gut, dass man sich so daran erinnert, auch als Warnung vor allen totalitären Systemen.

KNA: Hätte es nicht einen Aufschrei der Empörung geben müssen?

Jansen: Wenn man etwas unternommen hätte, wäre man sofort von der Gestapo unter Druck gesetzt worden. Ich denke, man konnte nichts machen in diesem totalitären System. Aus heutiger Sicht hätte man sich natürlich erheben müssen gegen Hitler.


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